Wie fühlt es sich für ein Kind an, wenn der Vater verschwinden muss, totgeschwiegen wird, und dann plötzlich an ganz unvermuteter Stelle wieder ins Leben eintritt? Woher weiß dieses Kind, dass der heimliche Vater besser geheim bleibt und es besser ist, Mama nichts von dem Wiedersehen zu erzählen? Und wie wirkt sich dieser fehlende Vater auf die eigene Familie aus? Nicole, eine Leserin des Stiefmutterblogs, hatte mir kurz nach Weihnachten vom „heimlichen Vater“ ihrer Ex-Schwiegermutter erzählt. Ich konnte kaum glauben was ich hörte, bis ich selbst mit der rüstigen Dame sprach. Ihre Geschichte, die während des Krieges begann, hat bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren.

Der heimliche Vater

„Ich kam als Heidi Krüger 1943 zur Welt. Meine Mutter sagte oft, meine beiden älteren Geschwister und ich seien Fronturlaubskinder. Immer, wenn mein Vater Hans-Karl Krüger eine längere Weile nach Hause kam, war meine Mutter anschließend schwanger.

Wir lebten im damaligen Ost-Berlin, in der Nähe der Jannowitzbrücke. Eines Tages kam mein Vater dann nicht mehr zurück. Warum, weiß ich nicht. Es wurde mit uns Kindern nicht darüber gesprochen, so wie damals überhaupt keine Erwachsenendinge mit Kindern besprochen wurden. Vielleicht wurde uns erzählt, er sei im Krieg geblieben? Meine Mutter erwähnte ihn jedenfalls nicht mehr. Ob es uns Kindern vielleicht auch verboten war, nach ihm zu fragen?  Ich erinnere mich nicht mehr. Ein neuer Mann besuchte meine Mutter fortan häufig, er hatte auch eine Tochter, sie hieß Helga. All das passierte noch bevor ich zur Schule kam.

Einschulung Heidi Krüger 1949 001 copyrightAnfang der Fünfziger Jahre, nach meiner Einschulung,  durfte ich zur Kinderlandverschickung. Dort traf ich im Jugendheim ein Mädchen, welches schnell meine beste Freundin wurde. Dagmar Ring hieß sie und wir waren ungefähr gleichaltrig. Dagmar kam, genau wie ich auch, aus Ost-Berlin und so verabredeten wir, uns daheim zu besuchen.

Dagmars Stiefvater war mein Vater!

Als ich das erste Mal bei Dagmar war, blieb mir fast der Atem stehen. Plötzlich stand dort im Wohnzimmer mein Vater vor mir, er war der neue Mann von Dagmars Mutter. Ich konnte es kaum glauben. Was für eine Freude es war, ihn zu sehen. Für Dagmar und mich war es eine tolle Sache, dass ihr Stiefvater mein Vater war. Wir haben stundenlang in ihrem Zimmer gekichert und uns überlegt, ob wir uns deswegen von Anfang an im Jugendheim so gut verstanden hatten.

Als ich abends nach Hause ging war mir ganz klar, dass mein Erlebnis mein kleines Geheimnis bleiben müsste. Ich hatte meinen Vater wieder gefunden, das war wie ein kleiner Schatz, den ich mit niemandem teilen wollte. Ich habe mich oft gefragt, warum ich das für mich behielt, aber fast zwei Jahre habe ich meiner Mutter nichts davon erzählt, er war der heimliche Vater. Sie dachte, ich würde meine Freundin Dagmar regelmäßig besuchen, ahnte nicht, dass ich mich dort mit meinem Vater traf.

Eines Tages kam sie hinter mein Geheimnis. Ich weiß nicht, wie sie es erfuhr, aber irgendwann wusste sie, warum ich so oft zu Dagmar ging. Sie war zwar böse, hat mir aber trotzdem erlaubt, wieder dorthin zu gehen. Nur musste ich mich jetzt anders anziehen. Zog ich vorher, auch auf ihre Anweisung hin, ein Kleid an, wenn ich meine Freundin besuchte, suchte sie mir jetzt alte, löchrige Schuhe heraus, die mir eigentlich zu klein waren. „Du kannst Deinen Vater ja fragen, ob er dir neue, anständige Sachen kauft“, waren ihre Worte.

Als Mutter von meinen Besuchen erfuhr, stellte sie Forderungen

Mir war das unangenehm. Ich weiß auch nicht, ob eventuelle Unterhaltsstreitigkeiten der Hintergrund waren. Als Kind hatte man ja keine Vorstellung davon. Mein Vater war kein reicher Mann, es war sicherlich nicht einfach für ihn, zwei Familien zu versorgen. Mit seiner neuen Frau, der Mutter meiner Freundin Dagmar, hatte er nämlich ein kleines Baby bekommen. Und für uns Geschwister und meine Mutter, wird er wohl auch bezahlt haben. Das war damals so üblich. Gefragt habe ich meine Mutter nie, sie hätte auch nie mit uns Kindern darüber gesprochen.

Eines Tages klingelte ich vergebens bei Dagmar und meinem Vater, die Familie wohnte nicht mehr dort. Ob sie geflüchtet waren, so wie meine Mutter und meine Geschwister es wenig später taten, weiß ich nicht. Sie wohnten einfach nicht mehr dort. Telefon, Internet, all das womit man heute Kontakt hält, gab es damals nicht. Ich war sehr traurig, aber in der damaligen Zeit war es normal, dass Menschen einfach weg waren. Schließlich konnte niemand seine Flucht vorher ankündigen.

1954 kam dann unsere Flucht in den Westen. Meine Mutter war politisch Verfolgte, sie ist abends allein mit einer Einkaufstüte in der etwas Kleidung war über die Jannowitzbrücke spaziert und hatte Glück, dass sie nicht kontrolliert wurde. Die vier Geschwister copyrightMeine drei Geschwister und ich, mittlerweile hatte meine Mutter mit ihrem Freund noch ein Kind bekommen, fuhren am nächsten oder übernächsten Tag mit der S-Bahn in den Westen. Mein Onkel hat uns in die Bahn gesetzt und dem Schaffner eine Geschichte erzählt. Unsere Mutter hatte seit ihrer Flucht Tag und Nacht an dem vereinbarten Bahnhof dieser S-Bahn gestanden und auf uns gewartet. Als wir uns wieder sahen, fielen wir uns in die Arme.

Ich würde Dagmar gerne wiedersehen

Bis heute denke ich oft an meine „heimliche“ Zeit bei Dagmar und meinem Vater. Ich hätte ihn gerne wieder gesehen, Dagmar natürlich auch. Aber ich habe damals akzeptiert, dass es einfach nicht möglich war. Vielleicht liest sie diese Geschichte ja und erinnert sich an damals. Mein Vater ist heute wahrscheinlich tot, er ist 1914 oder 1915 geboren. Aber Dagmar müsste, so wie ich, Anfang 70 sein. Ich würde so gerne wissen, was aus ihr und meinem Vater geworden ist.

Ich lebe mittlerweile in der Nähe von Hamburg. Mein Sohn ist zweimal geschieden, seinen Sohn aus der ersten Ehe dürfen wir nicht sehen. Da gibt es keinen Kontakt. So wiederholt sich leider die Familiengeschichte. Vielleicht wird er auch einmal der heimliche Vater für seine Kinder.

[bctt tweet=“Mein Sohn darf seinen Sohn nicht sehen. So wiederholt sich leider die Familiengeschichte „]

Ich bin nur froh, dass es mit Nicole, der zweiten geschiedenen Schwiegertochter sehr gut läuft. Mein Sohn sieht seine beiden Kinder aus dieser Ehe so oft er möchte, sie besuchen auch ihre Oma. Nicole und ich verstehen uns nach wie vor sehr gut.“

Heidi weiß nicht, was aus ihrem Vater geworden ist. Hochzeitsfoto Hans-Karl Krüger ca 1938 001 (2)

Heidi ist heute 71. Sie weiß nicht, was aus ihrem Vater geworden ist.  Auch die Halbschwester aus der neuen Ehe ihres Vaters mit der Mutter von Dagmar Ring kennt sie nicht. Vielleicht können Sie ihr helfen, indem Sie Heidis Geschichte bei Facebook oder anderen Medien teilen. Heidis Kinder und auch Ex-Schwiegertochter Nicole sind aktive Internetnutzer. Vielleicht hat auch Dagmar heute Kinder, die in den sozialen Medien unterwegs sind und ihren Stief-Opa auf dem Bild wieder erkennen, oder die Geschichte vom heimlich besuchten Vater von Dagmar erzählt bekamen.

Nicole, die Ex-Schwiegertochter, ist übrigens regelmäßige Leserin dieses Blogs. Ihre Worte haben mich sehr berührt – sie meinte, seit sie das Blog lese, würde sie immer wieder über all diese Familien-Themen nachdenken und auch mit ihrer eigenen bunten Patchworkfamilie, bestehend aus Eltern und Stiefeltern, Schwiegereltern und Stiefschwiegereltern, Kindern und Stiefkindern darüber reden.


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In eigener Sache: Ich weise darauf hin, dass der Stiefmutterblog kein juristisches oder medizinisches Forum ist. Ratschläge, die hier gegeben werden, sollten ggf. von Ihrem Familienanwalt oder Arzt geprüft werden. Ich übernehme keine Haftung für die Ratschläge oder Links, auch nicht in den Kommentaren, freue mich aber sehr über die vielen guten Tipps, die hier gegeben werden.

Foto: Stocksnap

 

6 Kommentare
  1. Lili
    Lili sagte:

    Aber eines verstehe ich nicht. Wieso darf der Sohn von Heidi seinen Sohn aus erster Ehe nicht sehen?!? Wir haben doch relativ „gute“ Chancen hier ️das Väter ihr Recht auf das Kind haben. Ansonsten wünsche ich Heidi ganz viel Glück. Habe es mit viel Hoffnung bei Facebook geteilt 🙂 lg

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    • Susanne Petermann
      Susanne Petermann sagte:

      Es gibt sehr viele Väter, die ihre Kinder nicht mehr sehen dürfen. Aus den unterschiedlichsten Gründen. Es geht bei Heidi ja nicht um die Geschichte ihres Sohnes, ich habe sie also nicht nach den Gründen gefragt, warum ihr Sohn keinen Kontakt haben darf. Aber mir wurde von der Ex-Schwiegertochter und Heidi gesagt, dass es so sei. Danke fürs Teilen 😉

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    • Susanne Petermann
      Susanne Petermann sagte:

      Ja, das denke ich auch. Wobei Heidi nicht unglücklich klingt, ganz im Gegenteil. Sie wirkt wie ein taffe Dame, die ihr Leben gerne lebt. Allerdings leidet sie darunter, dass die Geschichte sich wiederholt und ihr Sohn sein Kind auch nicht sehen darf. Sie muss dadurch ja auch auf dieses Enkelkind verzichten.

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